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Zurück zu meiner Familie

  • Autorenbild: Sanni Sierya
    Sanni Sierya
  • 10. Mai 2020
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Juli 2020

Heute ist der 10.10.2020. Muttertag. Meine Mum starb, viel zu früh. Doch geht es ihr heute besser. Mir nicht. Ich vermisse sie. Seit Tag 1.

Für mich war Familie lange kein Thema mehr. Es gab Gründe, weshalb ich meine Familie zurück ließ und schon sehr früh das Leben kennen lernte, wie es wirklich ist. Unbeschützt, auf mich allein gestellt. Nicht weil man mich im Stich ließ, ich wollte es so. Dinge, die ich schon sehr früh lernte, halfen mir beim Erwachsen werden. Ich habe so vieles schon mit ansehen müssen, was mich prägte. Bilder, die ich nie wieder vergesse. Ich war an dunklen Orten.

Ich ging meinen Weg, der steinig war, viele Jahre. Ohne Familie, dafür mit Freunden an meiner Seite, die heute mit keinem Geld der Welt zu bezahlen sind. Ich lernte in meinem Leben unzählige Menschen kennen. Auf die Fragen, wo denn meine Familie wäre, wich ich aus, umging sie, beantwortete sie nicht. Nur eine handvoll Menschen kennt meine Geschichte. Etwas über Jahre zu verdrängen, es nicht zu fühlen und völlig zu ignorieren, ist möglich. Ich habe es selbst erlebt. In den Jahren ohne Familie, vergoss ich sehr wenig Tränen. Ich beschäftigte mich mit allem, was mir einfiel, arbeitete bis zum Umfallen und kam in den schlimmsten Zeiten kaum noch zum Schlafen. Heute weiß ich, das ich nicht zur Ruhe kommen wollte. Aus Angst, Erlebtes aufarbeiten zu müssen. Ich vermied traurige Filme oder sensible Lieder. Ich sprach mit niemandem über das, was mir fehlte. Ich kompensierte. Quer durch´s Beet. Tage wie Weihnachten oder Geburtstage verbrachte ich in "fremden" Familien. Sie gaben mir Halt. Ich ließ keinen Gedanken an meine Vergangenheit zu. Ich hatte mich der Lüge verschrieben.

Bis meine Gesundheit mich in die Knie zwang. Ich hatte gesundheitlich nie Probleme, obwohl ich nicht wirklich auf mich achtete. Ich tat, aß und konsumierte, was ich wollte. Egal, ob es "gut" für mich ist oder nicht. Wobei ich den verbotenen Drogen niemals Aufmerksamkeit schenkte. Doch dann wurde ich krank. Ich bekam massive Probleme mit der Schilddrüse, mir war immerzu schwindelig, ich bekam schwer Luft und hatte keinen Appetit mehr. Am tiefsten Punkt wog ich noch 44 kg, wobei mein normales Gewicht bei 50 kg lag. 6 kg sind verflucht gefährlich, wenn man "normal" schon unter Durchschnitt liegt.

Ich bin ja bekannt dafür, Ärzte frühzeitig aufzusuchen. Das tat ich auch. Ich ging von Arzt zu Arzt- Blutentnahmen, Urinproben, Gewebeabnahmen, Ultraschall, MRT, CT, EKG. Ich war bei Kardiologen, bei HNO- Ärzten, suchte Schwindelzentren auf und kannte sämtliche Krankenhäuser. Ich hab mir sogar den Atlas (1. Halswirbel) mechanisch richten lassen. Alle sagten, ich sei soweit gesund. Sie gaben mir Eiseninfusionen, Vitamine und was mir noch alles so fehlte. Ich hätte lediglich eine Schilddrüsenunterfunktion. Ich bekam Hormone. Natürlich half das nix. Ich erhöhte eigenständig täglich die Dosis. Aber der Zustand blieb gleich. Ich wollte es vorerst akzeptieren und mich wieder voll auf die Arbeit konzentrieren. Das ging 3 Tage gut- dann wurde ich auf der Autobahn in einen Unfall verwickelt, der mich wieder zuhause landen ließ. Ich hatte eine Wirbelfraktur und ein Schleudertrauma. Während dieser Zeit zuhause, dachte ich über meine Familie nach. Zum ersten Mal seit fast 10 Jahren wurde mir bewusst, was ich im Stich gelassen hatte. Mein eigenes Blut. So klar, wie ich es plötzlich sah, so verschwommen war es in der Vergangenheit. Plötzlich war dieser Wunsch da, alles in Ordnung zu bringen. Ich wollte unweigerlich meine Familie zurück. Also schrieb ich. Ich schrieb einen Brief an meinen Papa. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Emotionen mich durchfluteten. Ich brauchte Tage für den Brief und ich vergoss Tränen, die längst überfällig waren. Alles kam hoch, einfach alles. Unvorstellbar, wie dich das in Stücke reißen kann. Ich arbeitete mehr als 48 Stunden mit vielleicht 3 Stunden Schlaf an einem 7 minütigem Video. Voll mit Bildern und Kurzvideos, die im Schnelldurchlauf zeigen sollten, was ich die letzten 10 Jahre tat. Das Video traf mich immer wieder ins Herz. Ich kann nicht zählen, wie oft ich es angesehen habe. Der Brief, ohne mich selbst loben zu wollen, war ohnehin das, was meinen Vater beeindrucken sollte. Ich habe noch nie etwas mit so viel Gefühl und mit so viel Liebe geschrieben.

Mein Plan war, das ich den Brief und den USB Stick einfach an meinen Vater adressierte und in die Post gab. Doch soweit sollte es nicht kommen. Es kam noch viel weiter.

Ich dachte "nein, das reicht nicht, du musst ihm zeigen, wie wichtig dir das alles ist". Also schnappte ich mir spontan am nächsten Tag Nicole und wir fuhren einfach 600 km, zu mir nach Hause. Es war 20 Uhr als wir ankamen, es waren Minusgrade. Es war so unendlich kalt. Aber in mir loderte ein, nicht löschbares Feuer, als ich nach so vielen Jahren vor dem Haus stand, in dem ich aufwuchs. NICOLE DANKE DAS DU DA WARST!! Ich möchte euch gerne beschreiben, wie sich das anfühlte- aber ich befürchte, das das nicht möglich ist. Da war dieses Adrenalin, gemischt mit Endorphinen und Neugier. Panik überkam mich, ich war niemals vorher so nervös.

Wir liefen um das Haus, spazierten auf unserem Grundstück, im Dunklen, in dieser Kälte. Ich setzte mich auf die Bank im Garten. Sie stand noch immer da, wo sie schon ihr ganzes Leben lang stand. Bilder aus Kindertagen zogen an mir vorbei, ich konnte meine Schwester lachen hören, wenn wir im Garten spielten. Mein Vater war im Haus, er wusste nichts davon das seine Tochter in diesem Augenblick in seinem Garten sass. 1,5 Stunden vergingen. In einem Bruchteil einer Sekunde konnte ich meinen Vater durch das Fenster sehen- und da war es plötzlich. Dieses Gefühl, wieder zuhause zu sein. Endlich zuhause, da wo Menschen dich bedingungslos lieben. Mir schossen die Tränen ins Gesicht. Eigentlich wollten wir "nur" den Brief in den Briefkasten legen und wieder zurück in die Schweiz fahren.

Aber da war Nicole mit ihren Schnapsideen. Ich sollte ihr noch viel zu verdanken haben. Sie klingelte einfach. In diesem Moment, als das Licht anging und ich sah, wie mein Vater an die Tür kam, waren alle vorangegangenen Gefühle ein Witz gegen das, was jetzt über mich kam. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten und behaupte heute, ich war der Ohnmacht sehr nahe.. Dann stand er da, mein Vater. Er erkannte mich sofort, wir schlossen uns nach dieser halben Ewigkeit endlich in die Arme. In diesem Moment fielen 10 Jahre Trauer, Angst und Einsamkeit von mir ab. Wir gingen ins Haus. Mein Haus, mein Zuhause, mein Platz in meiner Familie. Ich war wieder zurück. Ich lernte auch Papas Freundin kennen. Sie ist ein toller Mensch & passt perfekt zu ihm. Die Stimmung im ersten Moment war natürlich gedrückt, dieses Mal stellte ich alle vor vollendete Tatsachen. Kaum einer konnte glauben, was da passiert war. Wir sprachen miteinander und lernten uns irgendwie neu kennen. Wir konnten nicht lange bleiben. Ich musste zurück in die Schweiz. Wir verabschiedeten uns, aber ich wusste, ich würde bald wiederkommen. Unter Adrenalin fuhren wir zurück. Es dauerte Wochen, bis ich begriff, was da passierte. Etwas später besuchte ich meinen Vater und blieb etwas länger. Ich besuchte auch meine Schwester und meine Großeltern. Es trifft dich mitten ins Herz, wenn du mit Tränen empfangen wirst und du spürst, das sich an der Liebe zu dir nie etwas geändert hat.

Ich habe heute meine Familie zurück, stehen in engem Kontakt. Ich werde bald Tante 😍😍 darüber freue ich mich so sehr. Ich würde es niemals wieder zulassen, das mich etwas von meiner Familie trennt. Ich weiß, wie es ist ohne sie zu leben. Ich bekam noch ein Geschenk obendrauf: Meine gesundheitlichen Probleme lösten sich danach in Luft auf. Ich nehme seitdem keine Medikamente mehr.

Bitte schätzt, respektiert & passt auf eure Familie auf. Sie ist das teuerste Gut in eurem Leben und mit keinem Geld der Welt zu bezahlen. Ich liebe meine Familie mit jeder Faser meines Körpers. Ich kann heute meiner Mama versprechen, das ich auf meine Familie aufpassen werde. Ich bin so unendlich froh, das es sie gibt. Sie sind pures Gold.

Danke für eure Aufmerksamkeit,

Sanni.







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